Da gab’s kein Halten mehr. Die musste erkundet werden. Eine Höhle. Einfach so mitten im Wald. Was es wohl damit auf sich hat? „Sollen wir uns die mal anschauen?“, fragt Anke Krieger. Die Antwort der Matschpiraten lässt
nicht auf sich warten: „Jaaa.“ Die 3- bis 6-Jährigen haben an diesem Nachmittag ihre Primelgrün Wiese in Vilsendorf verlassen und entern ganz in der Nähe das Moorbachtal.
Der Wald im Moorbachtal ist ein traumhaft schöner Wald. Mächtige Wurzeln von Baumriesen krallen sich in die Erde. Zwischen den Wegen schlängelt sich der Bach, der dem Tal seinen Namen gibt. „Der Weg ist das Ziel. Es
geht uns um die Entdeckungen unterwegs. Deshalb habe ich auch nicht viel mit außer einem Seil , einer Hängematte und einer Plane. Die ist schon mal ganz nützlich, wenn es stark regnet“, sagt die Naturerlebnispädagogin.
Inspiration zum Spiel liefert die Natur. Unterwegs gibt es viel zu entdecken. Ein verwitterter, zerklüfteter Baumstumpf erfährt die ganze Aufmerksamkeit der Kinder.
Natur ist nichts Vorgefertigtes, sondern bietet ein freies Spiel, das sich durch die Kinder selbst entwickelt und keinen Regeln unterliegt. Hanne, Liam und Co. sind Natur erfahren, sie nehmen ohne Scheu und Ekel Asseln
in die Hand, rutschen auf ihrem Popo eine Böschung hinab, heben automatisch ihre Arme, wenn sie an Brennnesseln vorbeistreifen. Doch das ist heute längst nicht mehr selbstverständlich.
Fachleute beklagen eine zunehmende Entfremdung von der Natur. Der Aktionsradius von Kindern wird immer kleiner und verlagert sich immer mehr von draußen nach drinnen. Sie werden mehr denn je zu Stubenhockern,
schlagen Wurzeln auf dem Sofa. Es findet immer mehr eine Verinselung statt“, stellt Krieger fest: „Die Kinder werden überall hin mit dem Auto kutschiert.“ Eine Befragung des Emnid-Instituts im Auftrag des Forums Bildung
Natur Anfang des Jahres zeigt eine Naturferne von Kindern zwischen vier und zwölf Jahren. So sind 49 Prozent in dieser Altersgruppe noch nie selbständig auf einen Baum geklettert.
Der amerikanische Journalist Richard Louv hat den Begriff Natur-Defizit-Störung geprägt. In seinem Buch „Das letzte Kind im Wald?“ fordert er für die Entwicklung der Kinder, wieder mehr Naturerfahrungen zu ermöglichen. Aus
Fürsorge und Furcht, den Sprösslingen könnte etwas zustoßen, entwickelt sich bei Erwachsenen eine zunehmende Distanz zu Wald und Wiese. Das belegt auch die Emnid-Befragung. Die Mehrheit der Befragten (53 Prozent) würde einem Zehnjährigen und seinem Freund nicht erlauben ohne Aufsicht eines Erwachsenen im Wald zu spielen. Diese Elterngeneration gesteht ihrem Sohn oder ihrer Tochter aber nicht nur aus Ängstlichkeit weniger Freiraum zu. Eltern takten – stets mit besten Absichten – die Freizeit der Jungen und Mädchen mit unterschiedlichsten Kursangeboten durch.
„Kinder werden überall hingefahren. In der Natur – einfach so – zu spielen, kennen sie nicht mehr.“ Erzieherin Petra Vahle-Wehmeyer sieht die Folgen in ihrer täglichen Begegnung mit Kindern im Vorschulalter. „Das Erleben
von Natur ist den Kindern zunehmend fremd. Und das, was fremd ist, empfinden sie oft auch als unheimlich.“ Die Erzieherin arbeitet am Projekt frühkindliche Gesundheitsförderung der Stadt Bielefeld mit. Sie begleitet
das Programm „Natur und Bewegung“, dem sich vier Kindergärten angeschlossen haben. Sie holt die Natur nicht zu den Kindern in die Einrichtung, sondern bringt die Kinder in die Natur, um ihre Entdeckerfreude zu wecken.
Mit jeder Gruppe verbringt sie eine Woche im Teutoburger Wald. Bei Wind und Wetter. „Es ist für die Kinder sehr abenteuerlich, andere Gerüche, andere Geräusche zu erleben.“
Ihre Erfahrung im Alltag: „Die Kinder haben zuerst Probleme auf unebenen Waldwegen zu laufen, stolpern über Wurzeln, weil sie es nicht gewohnt sind.“ Eine Umgebung, die durch Sitzen geprägt ist, macht Kinder ungelenkig. Das bestätigt Motopädin Anke Krieger: „Motorische Defizite sind nicht zu übersehen, gewisse schützende Reflexe sind nur noch ungenügend vorhanden.“ Kinder fühlten sich nicht wohl z. B. wenn etwas glitschig ist. „Begreifen
kommt von greifen.“
Dabei ist die Natur für die Persönlichkeit des Kindes ein ausgezeichnetes Refugium. Learning by doing. Den Gleichgewichtssinn schulen beim Balancieren über einen Baumstamm, einen Zaun überwinden ohne Winkelhaken
in der Hose und einen Drachen zum Steigen bringen. „Selber, alleine“ sind für Kinder in der Entwicklung ganz wichtige Worte, außerdem besitzen sie einen natürlichen Bewegungsdrang. Beste Voraussetzungen also für eigene Erfahrungen – auch draußen.
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